Fesselung ... Selbstfesselung?
Michael Seibel • Anläßlich der Lektüre Nietzsches (Last Update: 24.02.2014)
Da
sind wir also mitten in Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“.
Wir habe uns als
Entrée noch einmal Abschnitt 1 aus der zweite Abhandlung:
»Schuld«, »schlechtes Gewissen« und
Verwandtes angesehen, um wieder ins Thema zu kommen und haben
Nietzsches Aufgabenbeschreibung der Genealogie diskutiert:
„Ein Thier heranzüchten, das
versprechen darf“.
Warum sagt er eigentlich nicht: Einen Menschen erziehen, der versprechen darf?
Tiere
können nicht versprechen. Hören wir auf, Tiere zu sein,
indem wir versprechen lernen?
Das
will Nietzsche gerade nicht sagen. Er macht auf einen Bruch mitten im
sozialisierten Menschen aufmerksam. Die Fähigkeit zu versprechen
- das Gedächtnis des Willens - steht in einem dauernden
Spannungsverhältnis sowohl zur produktiven tierisch/menschlichen
Fähigkeit der Vergesslichkeit als der grundlegenden Spontaneität
des Willens. Der Wille wird „ein aktives
Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal
Gewollten“. ... das
ziemlich genaue Gegenteil eines freien Willens.
Um
versprechen zu können, habe der Mensch angefangen, seinen Willen
zu deformieren, sich selbst berechenbar zu machen, sich umfassend
durchzurationalisieren. Darin sieht Nietzsche offenbar so etwas wie
eine Selbstfesselung.
Wir machten dann einen größeren Sprung im Text zu Abschnitt 16
der zweiten Abhandlung.
Hier
führt Nietzsche in etwa aus: Schuld und Strafe mögen unter
den Menschen bereits erfunden sein, aber es geschieht noch einmal
etwas fundamental Neues, wenn menschliches Leben „in
den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen“
stattfindet.
Vor
dieser Textstelle schienen Schuld und Schulden ja etwas zu sein, das
sich grundsätzlich abgelten lässt, sei es durch
Rückzahlung, sei es durch Strafe. Aber hier in Abschnitt 16
spricht Nietzsche vom schlechten Gewissen als einer „Erkrankung“
des Willens, die den Menschen unweigerlich befällt, sobald er
sein nomadisches Leben in der „Wildnis“
aufgibt und den Schutz einer wie immer verfassten Gesellschaft in
Anspruch nimmt. Erst hier bekommt jeder Mensch eine „Seele“
und ein schlechtes Gewissen. Denn der Mensch sei seiner
ursprünglichen Instinkthaftigkeit nach nicht dafür
ausgelegt, sich durch irgendeine Form von Gesellschaft beschränken
zu lassen.
Gesellschaftlich-Werden
ist für Nietzsche in jedem Fall mit einer Repression des Willens
verbunden. Der Mensch bleibt im innersten „Heimweh
nach Wüste“.
„Alle
Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen,
wenden
sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des
Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was
man später seine »Seele« nennt.“
„Der
Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und
Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und
Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte,
annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen
seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man »zähmen«
will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte,
der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine
unsichere und gefährliche Wildniss schaffen musste –
dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde
der Erfinder des »schlechten Gewissens«.“
Hier
bestand in unseren Reihen erheblicher Bedarf, Nietzsches Argument zu
prüfen. Können wir dem Gedanken zustimmen, dass man
schlechtes Gewissen im Grunde nicht loswerden kann?
Kann
man denn schlechtes Gewissen nicht zum Beispiel durch reflektierendes
Nachdenken wieder loswerden? Oder durch eine Beichte oder einfach
durch schlichte Gewöhnung oder ignorieren?
Nach
Nietzsche würde uns vom schlechten Gewissen keinerlei
Nachdenken, keine Beichte und kein Ignorieren befreien, sondern nur,
um mit seinen Worten zu reden, ein Gang
in die Wüste,
was immer das auch ist.
Befreit
Nachdenken von schlechtem Gewissen? Wenn man sich über die
Gründe des schlechten Gewissens eines anderen Gedanken macht,
mag das so aussehen und es mag bisweilen leicht fallen, sie durch
Nachdenken zu entkräften.
Das
wäre wert, am Beispiel veranschaulicht zu werden.
Würde beispielsweise ein Kind,
das versehentlich einen mehr oder weniger wertvollen Gegenstand zerstört hat,
mit seinem schlechten Gewissen durch den mütterlichen Trost fertig:
„Macht nichts, die können wir
ersetzen. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben.“?
Ein unbeteiligte Dritter könnte das so nachvollziehen: „Warum
sollte man dem Kind ein schlechtes Gewissen zumuten, da die Mutter
den Gegenstand doch unaufwendig ersetzen kann?“
Das Kind kann kaum wie der außenstehende Dritte
argumentieren. Damit würde es sein schlechtes Gewissen nicht loswerden,
sondern nur leugnen, sofern es eins hat.
Es darf bezweifelt werden,
ob sich das Schuldgefühl bei Erwachsenen durch rationale Argumente beruhigen läßt.
Beim Kind jedenfalls wirkt die mütterliche Vergebung.
Heutige
Verhaltenstherapien scheinen das jedoch anders zu sehen. Sie
betrachten – wenn ich das richtig überblicke -
Schuldgefühle meist als negativen Affekt, den es abzubauen gilt
und geben dem realitätsprüfenden Argumentieren, der
Desensibilisierung, gegensteuernder Selbstinstruktion etc. bei der
Bewältigung von Schuldgefühlen einen hohen Stellenwert.
Um
mit dem Gefühl einer Schuld fertig zu werden, ist der Andere
möglicherweise zwingend erforderlich. Der Gläubiger, der
Geliebte, der Beichtvater, der Therapeut. Der Andere und das Ritual
der Vergebung können kulturell ganz verschiedene Gesichter
haben. Aber Suspens gibt sich kein Schuldgefühl selbst. Eine
Art, selbst mit einem Schuldgefühl fertig zu werden, wäre
die Trauer.
Und
was meint Nietzsches große Sehnsucht, der „Gang in die
Wüste“? Wäre das eine weitere Art? Darüber
sollten wir noch einmal reden.
Ein
anderes Gedankenexperiment war: passiert es nicht alltäglich,
dass Menschen mit ihrem schlechten Gewissen dadurch fertig werden,
dass sie den Regelbruch, der ihnen ein schlechtes Gewissen
verursacht, einfach bis zur völligen Gewöhnung wiederholen?
Was war zum Beispiel mit all den Menschen, die sich in Zeiten des
Nationalsozialismus auf damals möglicherweise legale Art
jüdische Vermögen angeeignet haben? Fand da nicht in
kürzester Zeit eine Normalisierung statt, die von schlechtem
Gewissen auch nicht den kleinsten Rest ließ?
Andererseits:
Nach dem Krieg zur Rede gestellt war für jedermann sofort wieder
klar, dass die damalige Aneignung neben dem juristischen auch ein
moralisches Problem war und niemals ein argloser Erwerb.
Und
weiter: Was heißt es, von vorn herein beim Normverstoß
kein schlechtes Gewissen zu haben?
In
der Psychiatrie z.B. aufgrund einer dissozialen
Persönlichkeitsstörung, „eine
Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer
Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für
andere gekennzeichnet ist.“(ICD10.F60.2)
Was
hat es - so eine Frage aus der Gruppe - mit folgendem interessanten Phänomen auf sich – das
Verhältnis zu jemandem wird schlechter, plötzlich tritt
einem der andere befangen gegenüber, gerade weil man ihm etwas
Gutes getan hat?
Ist
das schlechte Gewissen, so wie Nietzsche es versteht, eine Art
gesellschaftlicher Kitt zwischen den Menschen und Ergebnis einer
unvermeidbaren Autoaggression?
Nicht zufällig erklären wir uns oft ganz erfolgreich über das schlechte
Gewissen, warum zwischenmenschliche Beziehungen in hohem Maß ambivalent sind.
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.